Zur künstlerischen Wanderung von Anita Fuchs durch die Feistritz.
Wo beginnt ein Fluss, wo endet er? Selbst wenn diese Frage nicht aus philosophisch- oder naturwissenschaftlich-erkenntnistheoretischen, sondern aus rein geo- bzw. hydrografischen Gründen gestellt wird, lässt sie sich nicht immer leicht beantworten. Im Falle der Feistritz etwa scheiden sich bis heute die Geister, ob ihr Quellgebiet am Stuhleck – dem mit 1782 Metern ü. A. höchsten Berg der Fischbacher Alpen in der Steiermark – oder südlich des Feistritzsattels – einem 1298 Meter hoch gelegenen Gebirgspass, der die niederösterreichische Bucklige Welt mit der Steiermark verbindet –, liegt. Aus beiden Regionen nämlich kommen Bäche, die bei der Ortschaft Rettenegg zusammenfließen und bis dorthin Schwarze bzw. Weiße Feistritz benannt werden. Im Wirtshaus in Feistritzwald, das östlich oberhalb dieses Zusammenflusses an der (wasserreicheren) Weißen Feistritz liegt, hat Anita Fuchs mit der Wirtin und den anwesenden Einheimischen die Karte studiert, um mit deren Hilfe die Ursprungsfrage der beiden Zusammenflüsse der Feistritz – und damit auch die dieses eben so genannten Flusses – zu diskutieren. Während nämlich der an der Feistritz aufgewachsene Hydrologe Helmut Habersack1 so wie auch die Ortsansässigen von Feistritzwald die Feistritzsattelthese vertreten, verficht die Abteilung 14/Wasserwirtschaft, Ressourcen und Nachhaltigkeit des Landes Steiermark die Stuhleck- bzw. Pfaffensattelthese. Hatte Anita Fuchs ihre künstlerische Wanderung durch den ab Rettenegg bis zu seiner Mündung in die Lafnitz 114 Kilometer langen und hier definitv Feistritz benannten Fluss womöglich am falschen Oberlauf desselben begonnen? Als außenstehendem, hydrologisch ungebildetem wie auch regionaltopografisch bzw. lokalpatriotisch neutralem Beobachter dieses der eigentlichen künstlerischen Wanderung vorangegangenen Konflikts erscheint es mir zwecks möglicher Entschärfung desselben nicht unwesentlich darauf hinzuweisen, dass nur wenige Wanderminuten flussabwärts der Weißen Feistritz zu deren linken Seite ein Weg in den Ohrwaschlgraben führt. So nämlich lautete einst auch eine Haltestelle der Feistritzwaldbahn, die von 1911 bis 1958 zwischen Steinhaus am Simmering und Rettenegg verkehrte.² Indem diese Waldbahn mittels zweier Schrägaufzüge ihre Waggons vom oberen Feistritztal – dem Flussbett der Weißen Feistritz also – auf den Feistritzsattel und vom Fröschnitzsattel über den Bremsberg in den Fröschnitzgraben – das Flussbett der Schwarzen Feistritz – ziehen konnte, verband sie zugleich auch die beiden möglichen Quellregionen der Feistritz miteinander.
Erkennen wir „Landschaft“ heute als längst kulturell determiniert, von Menschenhand geformt und von der Zivilisation nicht mehr zu entkoppeln, dürfen bzw. müssen wir auch die in sie und durch sie hindurch künstlich gezogenen Wege, Straßen und Trassen als Bestandteile ihrer Erscheinungsform erachten (was die Kartografie ja längst betreibt). Dann fungieren die künstlichen Wege gleichwertig auch mit (natürlichen) Gewässern, die für dem Menschen immer schon das Potenzial des Transfers von materiellen und kulturellen Gütern bedeutet haben und nach Möglichkeit dafür genützt wurden. Im Fall der die beiden (geowissenschaftlich divergenten) Feistritz-Quellgebiete verbindenden und dadurch die Ursprungsfrage dieses Flusses (landschaftstheoretisch³) relativierenden Feistritzwaldbahn ist überdies der Anteil des spezifischen Transportmediums Eisenbahn für die Transformation des Landschaftsbegriffs von Bedeutung. Wie etwa der Promenadologe Martin Schmitz erläutert, führte der technische Fortschritt vor allem seit dem 19. Jahrhundert zu einer Entfremdung und Wahrnehmungsveränderung des Menschen im Bezug zu seiner Umwelt: „Der Blick des Menschen hat sich rasant verändert. Den ersten Schritt zu dieser Veränderung trug die Eisenbahn bei, es folgten Automobil und Flugzeug. Auch GPS mischt dabei mit, sich immer besser zurechtzufinden – und sofern man sich dessen nicht bewusst wird, kann auch diese technische Neuerung dazu führen, immer weniger zu sehen.“4 Wenn sich Anita Fuchs zwei Wochen lang zu Fuß, etappenweise auch schwimmend oder in einem leichten Schlauchkajak paddelnd in, auf und direkt neben einen Fluss begibt, geht es ihr viel mehr um die Wahrnehmung der sich Schritt für Schritt, Schwimmzug um Schwimmzug oder Paddelschlag um Paddelschlag verändernden Situation des Mediums und seiner Umgebung als um die Ursprungsfrage desselben. Um ein „mehr Sehen“ also im Gegenzug des immer weniger Sehens im Zeitalter der technischen Wegbeschleunigung und digitalen Orientierbarkeit. Ganz im Sinne etwa der von Lucius Burckhardt in den 1980er Jahren begründeten kulturwissenschaftlichen und ästhetischen Methode der Spaziergangswissenschaft (auch Promenadologie bzw. englisch Strollology genannt). „Der Spaziergang ist insbesondere geeignet, Raumeindrücke und räumliche Bezüge unmittelbar zu vermitteln, da Raum letztlich nur durch die eigene körperliche Bewegung durch denselben erfahrbar ist und etwa nur durch rein wissenschaftliche Beschreibung nicht erfassbar ist. Ziel der Promenadologie ist das konzentrierte und bewusste Wahrnehmen unserer Umwelt und dabei das Weiterführen des bloßen Sehens zum Erkennen.“5
Zwischen Filzmoos und dem „Kraftspendedorf Ratten“6, knapp unterhalb des Gasthofs Zur Klause, mündet der aus dem Niesnitzgraben kommende Koglbach in die Feistritz. Wer hier hinaufsteigt zum Steinriegel und auf die Rattener Alm, gelangt zum größten hochalpinen Windpark Mitteleuropas, dessen 78 bis 94 Meter hohe Windturbinen Strom für rund 46.000 Haushalte erzeugen. Wohl nicht ganz ohne Irritation der dort oben heimischen Fauna und Flora, auch wenn dieser Windpark nicht im Bereich eines Zugvogelkorridors liegt und die hier ansässigen Birkhühner ohnehin „bodennah unterhalb der Rotoren fliegen, weshalb ein systematisches Totschlagrisiko als vernachlässigbar gering einzuschätzen ist“. Außerdem werden „Auerhuhngesang und -rufe durch Turbinenlärm nur gering maskiert. Es ist damit mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass sich Auerhühner an den Turbinenlärm gewöhnen“, heißt es in einer Umweltverträglichkeitserklärung zu dem unweit von hier zu errichtenden Windpark Stanglalm.7 Da mag einem der Vorschlag des Alltagskulturforschers Wolfgang Pauser in den Sinn kommen, statt weiterhin von „Natur“ richtiger- und ehrlicherweise vom „Outdoorbereich“ unserer Zivilisation zu reden: „Was wir heute Natur nennen, ist ein Artefakt, eine symbolische Repräsentation jenes Zustands, von dem wir uns einst abgestoßen haben, um zivilisierte Menschen zu werden. ‚Outdoor‘ ist ein treffender neuer Name für die Natur, die keine mehr ist. Er klingt nach Marketing und spricht dabei ganz ehrenhaft die Wahrheit.“8
Anita Fuchs nimmt diese weit oberhalb des Niesnitzgrabens gelegenen Windpark-Szenarien aus ihrem Bachbett allerdings nicht wahr, hat sie hier doch schon genug mit der Beobachtung von Pflanzen, Tieren und des Wassers selbst zu tun, ganz abgesehen von den immer wieder notwendigen Umgehungen von insgesamt 41 Wasserkraftwerken, die den Lauf der Feistritz – und damit den Schwimm- und Kajakkurs der Künstlerin – entsprechend oft unterbrechen. Während die ihr entgegen schwimmenden Äschen, Bach- und Regenbogenforellen solche Hindernisse über Fischaufstiegshilfen überwinden – dazu zählen neuerdings auch Aufstiegsschnecken, die das Prinzip der Archimedesschraube nutzen, um gegenstromwandernde Flussbewohner vom Unter- in das Oberwasser zu befördern –, musste die (flussabwärts ziehende) Künstlerin das Gewässer hierfür stets verlassen, was ihr, wie sie mir einmal schrieb, aber auch gewissen Spaß bereiten konnte: „Eine meiner Lieblingserinnerungen: wegen eines Hindernisses aus dem wilden Fluss zu steigen und direkt – von hinten aus dem Nichts – im Hof eines künstlichen Einfamilienhauses zu erscheinen, um das Haus herumzugehen und wieder im Fluss zu verschwinden.“ Nicht ohne dabei ihre Unterwasserkamera mit sich zu tragen, mit der sie sowohl die an der hauchdünnen Schnittstelle zwischen den Elementen Wasser und Luft sich einstellende Zweifachperspektive zur Über- und Unterwasserwelt als bisweilen auch die allein unter dem Wasserspiegel des strömenden Flusses räumlich sichtbaren Turbulenzen aufgewirbelter Sedimente und glitzernder Luftbläschen festhielt. „Es ist der Blick des Künstlers, der eintaucht ins Unsichtbare; der die transparente und doch zugleich undurchsichtige, grundlose, bodenlose Oberfläche des alltäglichen Lebensraums, der Welt durchstößt, um das Ungesehene ans Licht zu bringen; das Polymorphe, in Farben Gehüllte, das nicht Reflexion bestimmter Ausschnitte des sichtbaren Lichts ist“, schrieb Peter Noever im Jahr 2003 angesichts der Unterwasserfotografie des Bildhauers Manfred Walkolbinger.9 Der Blick der Künstlerin Anita Fuchs taucht desgleichen auch wieder ein in die für uns alle potenziell sichtbare oberirdische Tier- und Pflanzenwelt sowohl der Region Joglland-Waldheimat als auch der weiter flussabwärts gelegenen Südoststeirermark, wo Flora und Fauna der voralpinen Regionen mit derjenigen des pannonischen Raums zusammentreffen. Sie hält deren artenreiche Ufergehölzstreifen und Aulandschaften ebenso wie die den Fluss zäsierenden Stauwehre und die ihn dann und wann säumenden „künstlichen Einfamilienhäuser“ nicht nur fotografisch und zeichnerisch fest, sondern sammelt auch Realien wie etwa Herbarbelege von Farnen oder (tragbare) Flusssteine. „Ob etwas daraus wird und wie ich die genau zusammenschichte, weiß ich noch nicht“, schrieb sie mir ein andermal – auch wenn wir getrost annehmen dürfen, dass „etwas“ daraus werden wird, das über eine rein artefaktisch-fotografische Dokumentation hinausgeht. Denn Anita Fuchs‘ künstlerische Wanderung durch die Feistritz war nicht ihr erstes landschaftspromenadologisches Projekt. Als Künstlerinnenduo RESANITA hat sie, gemeinsam mit Resa Pernthaller agierend, durch die Verquickung von Natur- und Kulturräumen immer wieder soziopolitische Fragestellungen aufgeworfen und sie in urbanen Interventionen, Installationen oder Publikationen formuliert – zuletzt etwa als Wilde Frau (2016) oder im Forest Project von 2017.10 Auf die von der Künstlerin sich selbst gestellte Frage, ob noch etwas – und wenn, was – aus dem River Project entstehen wird, lässt sich mit Theodor W. Adorno folgende, jedes konkrete Projekt freilich weit übergreifende Antwort finden: „Daß kein Künstler sicher weiß, ob, was er tut, etwas wird, sein Glück und seine Angst, dem gängigen Selbstverständnis der Wissenschaft überaus fremd, bezeichnet subjektiv ein Objektives, die Exponiertheit aller Kunst. Ihren Fluchtpunkt nennt die Einsicht, daß vollkommene Kunstwerke kaum irgend existieren. Ästhetik muß solche Ungedecktheit ihres Objekts mit dem Anspruch auf dessen Objektivität und die eigene verbinden. Vom Wissenschaftsideal terrorisiert, zuckt Ästhetik vor solcher Paradoxie zurück; sie ist aber ihr Lebenselement. Man wird das Verhältnis von Bestimmtheit und Offenheit in ihr vielleicht damit erläutern dürfen, daß der Wege von Erfahrung und Gedanken, die in die Kunstwerke führen, unendlich viele sind, daß sie aber konvergieren im Wahrheitsgehalt.“11
Wenn wir schon nicht mit Bestimmtheit sagen können, wo der Feistritz-Fluss ur-sprünglich beginnt, aus welchen und wie vielen Quellen, Bächen, Wegen und Bahnen er sich speist bis zu seiner allgemeinen Anerkennung durch hydro- wie karto- und geografische Nennungen als „Feistritz“, so lässt sich doch erkennen, dass seine künstlerische Durchwanderung ihn um ein wesentliches, nicht zuletzt potenziell pädagogisches Element angereichert hat. Verspüren wir bei Betrachtung der von Anita Fuchs aus Fischotter- oder Biberperspektive gemachten Bilder nicht etwa die Lust, selbst einmal abseits von Auto-, Seil- und Eisenbahnen, abseits auch von Rafting-, Diving- und anderen Fun-Sport-Aktionismen in einen Fluss zu steigen zwecks „Weiterführens des bloßen Sehens zum Erkennen“? Trotz aller anthropogenen Mutationen der Natur Richtung Outdoorbereich gibt es dort immer noch mehr Bio-Diversität zu erspüren als am chemomechanisch unkrautbereinigten Rasen vor dem Pool und hinter garantiert vogellosen Thuyahecken. Ungeklärt bleibt übrigens die Frage, wo der Feistritzfluss endet. Bei und mit seinem Eintritt in die Lafnitz, die dann in die Raab, die in die Donau, die ins Schwarze Meer … womöglich mehr fließt als jeweils dort nur mündend endet?
(Lucas Gehrmann, Kurator Kunsthalle Wien)
1 Univ. Prof. DI Dr. Helmut Habersack, Leiter des Christian Doppler-Labors für Innovative Methoden in Fließgewässermonitoring, Modellierung und Flussbau; Leiter des Instituts für Wasserwirtschaft, Hydrologie und konstruktiven Wasserbau, Department für Wasser, Atmosphäre und Umwelt der Universität für Bodenkultur Wien; UNESCO-Lehrstuhl für „Integrated River Research and Management“. S.a.: Helmut Habersack, BOKU (Hg.), Kulturtechnik und Wasserwirtschaft. Umwelt, Technik, Gesellschaft, Wien: facultas 2013. 2 s. https://de.wikipedia.org/wiki/Feistritzwaldbahn. Einzelne Streckenteile mit Brücken, Bahndämmen und Gebäuderesten sind noch teilweise erhalten bzw. erkennbar. 3 vergl.: Olaf Kühne, Landschaftstheorie und Landschaftspraxis. Eine Einführung aus sozialkonstruktivistischer Perspektive, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien 2013. 4 Markus Ritter und Martin Schmitz (Hg.), Lucius Burckhardt. Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2006. Zur Bedeutung der Eisenbahn in Bezug auf die Wahrnehmungsveränderung von Landschaft, konkret im Semmering-Gebiet, siehe auch: Wolfgang Kos (Hg.), Die Eroberung der Landschaft. Semmering, Rax, Schneeberg, Wien: Falter Verlag 1992. 5 Martin Schmitz, op. zit. Anm. 4. 6 siehe: Gemeinde Ratten, Touristinformation, https://www.ratten-steiermark.at/upload/images/Dateien-Download/Ratten_panoTAFEL.pdf. 7 Windpark Stanglalm, Umweltverträglichkeitserklärung, davitech GmbH, Gleisdorf 2017. 8 Wolfgang Pauser, „Outdoor, die Wildnisform des Paradieses“, in: Falstaff Living 02/2017 (Verwilderung im Paradies), S. 62. 9 Peter Noever, „Unter dem Nullpunkt der Kunst“, in: Peter Noever, MAK (Hg.), Manfred Wakolbinger. Bottomtime, Wien: Schlebrügge Editor 2003. S. a. www.manfredwakolbinger.at/texte/bottomtime/#noever-d. 10 RESANITA, Wilde Frau, mit Katalog und Ausstellung im Kunsthaus Graz, 2016, www.resanita.at/projekte.php?ID=42&Typ=PR, und RESANITA, Forest Project, mit Ausstellung im Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz 2017, www.resanita.at/projekte.php?ID=116&Typ=PR. 11 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 7: Ästhetische Theorie (1969). 6. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
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