An der oststeirischen Kutschenitza, die seit gut tausend Jahren Grenzland markiert, beobachtet die Künstlerin Anita Fuchs, wie sich Landschaften im Anthropozän entfalten.
Man kann an diesem sanft abfallenden Hang südlich von St. Anna am Aigen im oststeirischen Grabenland endlos in der Wiese sitzen und in die Landschaft schauen. Nicht weil die hier besonders spektakulär wäre. Es gibt keine romantisch zerklüfteten Felsen, keine reizvoll spiegelnden Seen, keine rauschenden Urwälder. Es sind einfache Felder und sommergrüne Wiesen, eine mit Hagelnetzen verhängte Apfelplantage, die hier von der Straße, dem Sinnersdorf Weg, zur Kutschenitza abfallen. In der Mitte der Kutschenitza, die man sich viel größer vorstellt, als sie in Wirklichkeit ist, beginnt Slowenien, dort heißt der Bach Ku?nica. Seit bald tausend Jahren, seit Kaiser Heinrich III. die Ungarn zurückwarf, markiert das Gerinne eine Grenze, heute zu Slowenien. Vermutlich ist das ein Grund, warum die Kutschenitza heute noch viel größer wirkt als sie eigentlich ist. Dabei ist sie in den vergangenen 60 Jahre noch weiter geschrumpft, durch harte Regulierungen, die mehr Ackerland freimachen und vor Hochwasser schützen sollten, hat der Grenzbach seine Mäander und damit die Hälfte seiner Laufstrecke verloren.
Turm an der Grenze
Das sieht man erst nicht, wenn man nur auf der Wiese sitzt und übers Tal Richtung Slowenien schaut. Dort, wo das Grundstück von Anita Fuchs endet, sieht man noch einen krummen Altarm der Kutschenitza, der sieht natürlich schön aus. Erst hinter den Pappeln, einem Hochsitz und dem Grenzstein, der seit dem Frieden von St. Germain hier steht, fließt der eigentliche Grenzbach, schnurgerade, um 20 Kilometer südlich in die Mur zu münden. GPS und Google Maps zeigen einmal den alten, einmal den neuen Lauf als Grenze an, hat Anita Fuchs beobachtet. Fuchs hat diese Wiese mit Aussicht gepachtet, um sich die Landschaft an der Grenze zu ergehen, sie zu erfahren, ihre Geschichte und ihre Besonderheiten zu entdecken, sie gemeinsam mit befreundeten Künstler*innen, mit Wissenschaftler*innen genau unter die Lupe zu nehmen, und das, was sie an Interessantem vorfindet, in ihre Kunst zu übersetzen. Und sie hat zu diesem Zweck einen in der Mittagssonne silbern glänzenden Kasten auf ihr Grundstück gestellt, eine Field Station, die um zehn Zentimeter höher als tief und daher auch kein Würfel ist. „Es ist ein Turm“, sagt Fuchs. Man stellt sich den „Turm“ wahrscheinlich größer vor, als er in Wirklichkeit ist. Der „Turm“ ist 2,5 Meter hoch und 2,4 tief, aus witterungsbeständiger Seekiefer gezimmert und mit einfachem Spenglerblech bezogen. Wie ein Kleiderschrank hat er zwei Flügeltüren, man kann darin bequem aufrecht stehen, einen Arbeitstisch, Stühle, Werkzeug lagern, vielleicht eine schmale Natur-Bibliothek, man kann eine kleine Ausstellung, eine Präsentation einrichten und zur Not kann man hier wohl sogar schlafen. Die Field Station, die Anita Fuchs als Homebase eingerichtet hat, ist wie aus einer Zwischenwelt. Zu Mittag strahlt sie mit der Sonne, aber den restlichen Tag verschmilzt sie mit der Landschaft, nimmt das Grün der Wiese, das Blau des Himmels, das Abendorange auf. Sie müsse keine Skulptur sein, sagt Anita Fuchs. „Ich will hier ganz unauffällig meine Sache machen. Ich pflanze nichts und schneide nichts ab. Ich gehe in die Landschaft rein, verändere nichts und verschwinde wieder.“ Dennoch verkörpert die Field Station in diesem Tal etwas Künstliches, während sie gleichzeitig die Natur reflektiert. Sie ist Funktions- und Kunstraum, Arbeitshütte und „Cube“, außerdem Labor, Atelier, „Grenzturm“, Landmark und noch so einiges.
Auch die historischen Field Stations, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts den cleanen Labors an den Universitäten Konkurrenz machten und das Leben in seinen natürlichen Bezügen erforschen wollten, folgten keiner festen Typologie, waren „Zwischenräume“. Die berühmte Stazione Zoologica, die der deutsche Privatdozent Anton Dohr 1872 zur Erforschung des Meeres in Neapel gründete, die limnologischen Stationen in Plön oder Lunz oder das „fliegende“ Labor des ?böhmischen Zoologen Antonín Fri? – im Wesentlichen war diesen Feld Stationen bei allen Unterschieden gemein, dass sie das „Innen“ der Forschung nahe an das „Außen“ der Natur rückten und Orte des interdisziplinären Austauschs, der Bildung und Repräsentation schufen, wie das der Wissenschaftshistoriker Raf de Bont in „Stations in the Field“ (2015) detailreich beschreibt. Aber anders als beim „Black-Boxing“, das für Bruno Latour und Steve Woolgar (Laboratory Life, 1979) typisch für die wissenschaftliche Produktion ist, ist die Wissens- und Kunstproduktion rund um die silberne Box im Kutschenitzatal einigermaßen transparent: Fuchs will in der Gegend unterwegs sein, die Flora und Fauna erkunden und Wissen über die Landschaft sammeln. An disziplinäre Grenzen fühlt sie sich dabei nicht gebunden. „Wenn man etwas über das Land herausfinden will, seine Geschichte, die Grenzen, über Politik, die sozialen Verhältnisse, dann gehört auch die Natur dazu – das Gras, das unter uns wächst, der Käfer, der vorbeikriecht.“ Wenn sie in ihrer Erkundung auf Fragen stößt, die sie selbst nicht beantworten kann, will sie diese, wie sie das schon in zahlreichen früheren Arbeiten gemacht hat, vor Ort mit Expert*Innen klären, die sich mit Geschichte, mit Botanik, Mykologie, Geologie etc. besser auskennen. Der von Lucius Burckhardt in den 1980er-Jahren ausformulierten Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie fühlt sich Fuchs methodisch verbunden, der Schweizer Soziologe betonte die Wichtigkeit des genauen Hinschauens, des langsamen Betrachtens der Landschaft jenseits vorgefertigter Bilder.
Von Alaska in die Höll
Auf der slowenischen Seite spiegelt sich die österreichische Talflanke. Wenn Anita Fuchs dort drüben, auf dem Hügel bei Fikšinci, dem früheren Füchselsdorf, neben ihrem Pickup steht und nach Österreich schaut, wo das Kutschenitzatal samt ihrer Field Station gerade in der Nachmittagshitze liegt, dann denkt sie, dass hier das Ende der Welt ist. Unzählige Male ist sie schon an diesen Punkt gekommen und hat ebensoviele Fotos gemacht. Die Talwanne, die Fuchs vor zehn Jahren für sich entdeckt hat, ist kaum besiedelt, wahrscheinlich weil bis vor 30 Jahren die Systemgrenze zu Jugoslawien hier verlief – weniger als „Eiserne Vorhang“ aber doch als gut bewachter Bach. Man schaut nicht deshalb so gerne in diese Landschaft, weil es hier unberührte Natur zu sehen gäbe. Sondern vielleicht weil der Menschen, bei allen Verwüstungen, gnädiger zu ihr war als zu vielen anderen Landschaften am Ende der Welt. Es gibt hier schließlich kein Atommüllendlager.
Um diese Landschaft für sich zu ordnen, hat Fuchs ihr neue Flurnamen erfunden. Dort, wo ihr Nachbar Silberfichten an seinen Fischteich gesetzt hat, liegt „Alaska“. Hinter der Field Station hangaufwärts fangen die „Südstaaten“ an, und die Wiese weiter oben, auf der ab Mai der Schlangenlauch seine purpurnen Antennenblüten entfaltet, heißt „Mars“. Nur die Bar im nahen Kramarovci, dem früheren Sinnersdorf, die eine ansehnliche Pokalsammlung und ein Tito-Porträt beherbergt, die heißt wirklich „Europa“. Der Flecken, auf dem die Field Station steht, ist schon ewig als „Höll“ auf den Karten verzeichnet und die Menschen, die in der Nähe wohnen, führen diesen Namen auf die Hitze zurück, die sich hier im Sommer staut. Andere meinen, der Name habe mit der Geschichte zu tun, die sich tief ins Tal und das Leben der Menschen eingegraben hat. Gleich nördlich der Field Station verzeichnen Karten der Josephinischen Landesaufnahme eine „Alte Schanze“, einen heute überwachsenen Verteidigungswall gegen die aufständischen Kuruzzen, die sich 1709 dennoch durchs Tal mordeten. Auf der Schanze, unter einer hornissenbrummenden Linde, steht seit zehn Jahren ein Gedenkstein für die nach 1945 Vertriebenen und Getöteten aus den damals mehrheitlich deutschsprachigen Grenzdörfern Jugoslawiens, aus Füchselsdorf, Guitzenhof, Sinnersdorf, Rotenberg. Es gibt, auf der slowenischen Seite des Tals, ein Denkmal für die mehr als 100 „zum Ruhm und zur Freiheit brüderlicher Völker“ gefallenen Soldaten der Roten Armee. Und es gibt, im Schuffergraben, keine hundert Meter nördlich der Field Station, ein von einer prachtvollen Eiche beschattetes Mahnmal für die jüdischen Zwangsarbeiter, die hier von den Nazis beim Bau von Panzergräben und Straßen für den Endkampf am „Ostwall“ geschunden, getötet, in Flecktyphus-Barracken gesperrt und in Massengräbern verscharrt wurden. Es wurde viel getötet in dieser Landschaft, in der kaum wer lebt. „Kontaminiert“ hat Martin Pollack Landschaften wie diese genannt. Fragt man Anita Fuchs, warum sie sich ausgerechnet hier niedergelassen hat, antwortet sie mit einer Gegenfrage: „Soll ich mich auf einen Hügel setzen, auf dem nichts ist?“
Ton, Steine, Schrecken Unberührte Landschaften gibt es ohnehin keine. „Alle Landschaften sind gestört“, schreibt Anna Lowenhaupt Tsing in „Der Pilz am Ende der Welt“ (2018), alle Landschaften seien Produkte „unbeabsichtigten Designs“, von „überlappenden Welterzeugungsaktivitäten“ menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Durch diese Grenz- und Überlappungsräumen von Natur und Kultur bewegt sich Anita Fuchs seit vielen Jahren, seit 2003 gemeinsam mit Resa Pernthaller als Ku?nstlerinnenduo Resanita, seit 2018 auch solo, und zieht aus diesen forschenden Streifzügen immer wieder erstaunliche Arbeiten von, wenn man so will, landschaftsbildender Kunst. 2018 hat sie in „Line Transect I – River Project“ 14 Tage lang gehend und paddelnd, die Feistritz von ihrem Ursprung bis zur Mündung durch- und vermessen; für den Mobilen Pavillon der SteiermarkSchau (2021) hat sie das aufgeregte nächtliche Treiben einer Wildschweinrotte an den alten Steinen der österreichisch-ungarischen Grenze mit einer Wildkamera eingefangen; für das Austellungsprojekt „Land“ mit Fundstücken fossiler Pflanzen aus der Tongrube Mataschen bei Fehring der Ästhetisierung des Natürlichen im Anthropozän ein raumgreifendes Denkmal gesetzt. Die beiden letzten Arbeiten entstanden bereits im Umfeld der Field Station, deren Betrieb durch das Kunsthaus Graz und ein Atelierstipendium des Landes Steiermark gefördert wird.
Einige Landschaften gibt es hier am Ende der Welt aber doch, die dem, was man unter Natur versteht, recht nahe zu kommen scheinen. In der „Höll“ hat der Naturschutzbund einige Flächen angekauft, um die dortigen Halbtrockenwiesen zu bewahren, die der Pannonischen Distel, der Warzen-Wolfsmilch, der Kleinen Knarr- oder der Wanstschrecke als Lebensraum dienen und die zu den artenreichsten und botanisch wertvollsten Biotopen des Landes überhaupt zählen. Oder der Oberlauf der Kutschenitza, die im Steinleiten-Wald östlich von St. Anna noch naturbelassen ist und eine Quellbachau ausbildet, eine schlammig-schwüle, insektensummende Senke voller Schwarz-Erlen, schulterhoch stehender gelber Wasser-Schwertlilien, fetter Steif-Seggen-Horste, Sumpfdotterblumen und Riesen-Schachtelhalme. Beim „Herumgehen“ hat Anita Fuchs hier schon einiges entdeckt. Die Basaltstraße etwa, die durch den Buchen- und Stiel-Eichenwald über die Kutschenitza und ins slowenische Ocinje, das frühere Guitzenhof, führt. „Schwoazer Stoa“ sagen Einheimische dazu und wissen, dass es Zwangsarbeiter aus Ungarn waren, die hier im Winter 1944 eine panzerfeste Straße für den Ostwall bauten. Geht man von der Straße ein paar Meter hangabwärts in Richtung Au-Boden, kann man, zumindest ab Ende August, über ein Lebewesen stolpern, das es zu jener Zeit vermutlich auch schon gegeben hat. Bis zu hundert Jahre alt könnte der Pilzkreis aus Semmel-Porlingen sein, den Fuchs hier gefunden hat. Das Pilzmyzel, dessen Alter ein befreundeter Mykologe aufgrund der Größe des Kreises errechnet hat, bildet mit Kiefern „symbiotische“ Mykorrhiza-Netzwerke aus und wächst, wenn man es nicht stört, langsam und ringförmig von Innen nach Außen. Früher, hat man ihr erzählt, haben Bewohner der Region sie gesammelt und als Zuverdienst verkauft, daraus wurde Suppenwürze gemacht. 56 Meter betrug der Umfang des Ringes aus 200 Pilzen, als Fuchs ihn entdeckte. Über einen Zeitraum von zwei Wochen hat sie dann im Wald jeden Pilzkörper von der Kreismitte her ausgemessen, die Umrisse aller Kappen nachgezeichnet und den Ring von einem Ingenieurbüro für Geologie lagerichtig kartografieren lassen. „Es wäre schön“, sagt Fuchs, „wenn man den Kreis in den offiziellen Kataster übernehmen könnte.“
Nach dem Ende
In der Übersetzung ihrer Pilz-Vermessungen für die Ausstellung „was sein wird. Von der Zukunft zu den Zukünften“ im Grazer Kunsthaus (2021) wurde aus dem Kreis ein vielstrahliger Stern, der die Zeitachse sichtbar macht, in der sich die Pilzkörper vom ursprünglichen Zentrum entfernt haben. Mit weißer Linie ist der Stern in den Katasterplan der Gegend, Maßstab 1:500, eingezeichnet, außerdem hat Fuchs diese Zeitstrahlen in Originalgröße mit einer Zimmermannsschnur und schwarzer Tinte auf den Kunsthaus-Boden geschnalzt. „Field Station“ ist diese Arbeit betitelt, die am Ende eine Reflexion über die lange Dauer natürlicher Prozesse geworden ist, die Fuchs ganz sachte neben die historische Zeit stellt, die Geschichte der Basaltstraße ist auf der Karte knapp vermerkt.
Es gibt keine ungestörten Landschaften am Ende der Welt. Das gilt gerade auch für das Grundstück der Field Station. Von der Apfelplantage, die hier bis vor drei Jahren befand, hat sich der Boden noch nicht erholt. Könnte er das? Könnte hier, wie auf einigen der geschützten Wiesen der Nachbarschaft auch eine dieser artenreichen Magerwiesen entstehen? Fuchs hat beschlossen, eine kreisrunde Fläche, Umfang 56 Meter, neben ihrer silbernen Box nicht länger zu mähen und gemeinsam mit Philipp Sengl, einem Biologen aus der Gegend, genau zu beobachten: Kommt die Pannonische Distel zurück? Die Wanstschrecke? Zu schauen, ob langsam – „von den Rändern her“, „nach und nach“ – die Pflanzen, die Chemiedünger und Spritzmittel vernichtet haben, zurückkehren. „Ich will beobachten“, sagt Fuchs und es klingt wie ein Forschungsprogramm für eine Welt nach dem Ende, „wie die Natur sich das Land zurückholt.“
|